Welche Rolle das Nervensystem bei Trichotillomanie spielt
Unser Nervensystem ist ein wahres Wunder der Natur: Es besteht aus Milliarden intelligenter Zellen, die unsere gemachten Erfahrungen speichern und anhand dessen steuern, wie wir auf verschiedenste Situationen reagieren.
Ein anpassungsfähiges Nervensystem ist unglaublich wichtig, denn es arbeitet schneller als die Verarbeitung unserer bewussten Wahrnehmungen. So hilft es uns dabei, unser Überleben in allen Lebenslagen zu sichern!
„Unser Wohlbefinden hängt von einem funktionierenden und anpassungsfähigen Nervensystem ab.“ (Benjamin Shield)
Aufbau des Nervensystems
Die Abbildung zeigt die verschiedenen Bereiche unseres Nervensystems. Es besteht aus dem zentralen und peripheren Nervensystem. Das periphere Nervensystem setzt sich wiederum aus dem somatischen und autonomen Nervensystem zusammen.
Um zu verstehen, welchen Einfluss unser Nervensystems auf Trichotillomanie hat, werden wir uns nun das autonome Nervensystem näher anschauen.
Das autonome Nervensystem regelt diverse Abläufe im Körper – ohne dass wir darüber nachdenken müssen – und sendet Signale aus dem Körper zum Gehirn.
Das autonome Nervensystem und die Polyvagaltheorie
Das autonome Nervensystem besteht aus dem Gehirn, dem Hirnstamm sowie diversen Nervensträngen, die sich durch unseren Körper ziehen. Es überwacht und steuert die Aktivität der inneren Organe und ist zuständig für alle nicht bewussten steuerbaren Vorgänge in unserem Körper.
Früher dachte man, dass uns das autonome Nervensystem in 2 verschiedene Zustände versetzen kann: Stress und Entspannung. Der sympathische Nervenkreislauf war dabei für die Stressreaktion zuständig und der parasympathische Nervenkreislauf für die Entspannung.
Stephen Porges machte jedoch eine weitere Entdeckung, die unter dem Namen Polyvagaltheorie bekannt wurde. Er bestätigte dabei die evolutionäre Entwicklung des parasympathischen und des sympathischen Nervensystems. Doch er fand heraus, dass der Vagusnerv im parasympathischen Nervenkreislauf eine wesentliche Rolle spielt und neben der Entspannung einen dritten Zustand erzeugen kann: Die Erstarrung.
Die folgende Abbildung zeigt, wie unser Gehirn instinktiv und unbewusst entscheidet, wie wir uns bei einer Bedrohung am besten schützen können. Mithilfe des Nervensystems wird unser Körper in eines der folgenden 3 Zustände versetzt, so dass er ganz individuell auf ein traumatisches oder stressiges Ereignis reagiert:
1) SICHER & SOZIAL ZUGEWANDT:
Wir fühlen uns entspannt, sicher und verbunden. Falls ein Problem auftaucht, versuchen wir es, auf soziale Art und Weise zu lösen, indem wir kooperieren, jemanden um Hilfe bitten oder das Problem besprechen. In diesem Zustand ist der vordere Vagusnerv aktiviert.
2) MOBILISIERT:
Wenn wir einschätzen, dass diese Lösungsversuche nicht ausreichen, wird der Sympathikus aktiviert und die normale körperliche Stressreaktion ausgelöst. Indem unser Blutdruck, Herzschlag und Puls steigt, wird mehr Energie im Körper freigesetzt, so dass wir die Bedrohung bekämpfen oder ihr entfliehen können. Diese Stressreaktion erfolgt, wenn der sympathische Nervenkreislauf aktiviert ist. Er ist ganz normal und nichts, was wir loswerden wollen, denn normalerweise folgt eine Entspannungsphase danach, sobald die Situation gemeistert ist.
3) ERSTARRT:
Wenn die Mobilisierung nicht ausreicht und die körperliche Stressreaktion nicht erfolgsversprechend ist, zeigt sich ein Erstarren in Form von Bewegungslosigkeit, Kraftlosigkeit, Depression oder emotionalem Ausschalten. Es kommt zu einer Dissoziation, dem Rückzug des Bewusstseins aus dem Körper. In diesem Zustand ist der hintere Vagusnerv aktiviert.
Das autonome Nervensystem reguliert nicht nur die Funktion der inneren Organe, sondern auch unsere emotionalen Zustände, die wiederum unser Verhalten beeinflussen.
Trichotillomanie im Kontext der Polyvagaltheorie
Im Rahmen meiner Selbsterforschung konnte ich einen vorherrschenden Zustand bei mir beobachten, die zum Ausreißen meiner Wimpern und Augenbrauen führten: Chronischer Stress.
Ich fühlte mich schon bei kleinen Herausforderungen stark gestresst und angespannt. Mein sympathisches Nervensystem sprang schnell an.
Zudem hatte ich oft erhöhten Blutdruck, einen flachen Atem und schnellen Puls – also jene Anzeichen einer körperlichen Stressreaktion, die zur Mobilisierung da ist, um eine herausfordernde Situation gut zu bewältigen. Und je länger dieser Zustand andauerte und je gestresster ich in meinem Alltag war, umso mehr Wimpern riss ich mir aus.
Und auch in harmlosen Situationen spürte ich meist eine körperliche Anspannung, die ich als permanente, subtile Angst beschreiben könnte. Egal wie ausgeglichen ich war, diese innere Spannung war mein permanenter Begleiter und äußerte sich u.a. durch einen verbissenen Kiefer, hochgezogene Schultern oder auch einen eingezogenen Bauch. Besonders auffällig war dies im Beisein anderer Menschen.
Als ich das erste Mal von der Polyvagaltheorie las, fiel es mir dann wie Schuppen von den Augen. Mein Körper war in einem Zustand permanenter Bedrohung und Erstarrung. Das war der Grund, warum ich im Beisein anderer immer angespannt war. Damit erklärte sich mir auch das emotionale Ausschalten und das Dissoziieren während des Ausreißens der Haare.
Vergangene Erfahrungen hatten mein Nervensystem so geprägt, dass es augenscheinlich aktuelle Situationen fehlinterpretierte. Es war stecken geblieben und pendelte nur noch zwischen der Stressreaktion und der Erschöpfung. Es war nicht mehr anpassungsfähig genug, um in einen Zustand von Sicherheit und sozialer Zugewandtheit zu kommen. Dies äußerte sich in meinem Körper in Form innerer Spannungen und Unruhe, die ich wiederum mithilfe des Haareausreißens zu regulieren versuchte.
Ein alarmiertes Nervensystem reguliert sich nicht über den Verstand. Aber wir können dem Körper immer wieder zeigen, dass er sicher ist. Je öfter wir dies tun, umso mehr wird er sich wieder an diesen Zustand gewöhnen.
Trichotillomanie und die Wiederherstellung eines anpassungsfähigen Nervensystems
1) Achtsamkeit zur Stärkung der Selbstwahrnehmung
Wie kannst du als Trichotillomanie-Betroffene*r die Dysregulierung des Nervensystems wieder korrigieren? Zunächst einmal ist es wichtig, dass du mithilfe körperbasierter Achtsamkeitsübungen deine Selbstwahrnehmung stärkst, so dass du in jedem Augenblick bewusst wahrnimmst, in welchem Zustand du dich gerade befindest. Mehr dazu erfährst du hier >>
2) Achtsamkeit zur gesunden Regulierung der sympathischen Stressreaktion
Die Achtsamkeitspraxis führt zudem zur Stärkung deines Bewusstseins. Dadurch werden deine verinnerlichten Glaubenssätze sowie hinderliche Gedanken- sowie Verhaltensmuster sichtbar und es gelingt dir, bewusst auf Stressauslöser zu reagieren. So kannst du gelassener mit herausfordernden Situationen umgehen und lernst, die Wellen des Lebens voller Leichtigkeit zu surfen. Mehr dazu erfährst du hier >>
3) Übungen zur Aktivierung des vorderen Vagusnervs
Um den Körper aus dem Überlebensmodus herauszuholen, hilft es, den vorderen Vagusnerv bewusst zu aktivieren. Diese Aktivierung führt dich aus dem Zustand der Depression, des emotionalen Rückzugs oder der Anspannung in einen Zustand von Sicherheit, sozialer Zugewandtheit und Kontaktbereitschaft.
Im 12-Wochen-Programm wirst du verschiedene Übungen kennen lernen, um dein Nervensystem bewusst zu regulieren. Du hilfst dem Nervensystem dabei, flexibler zu werden und vergrößerst schrittweise dein Toleranzfenster. Das ist der Bereich, in dem du dich sicher und ausgeglichen fühlst.
„Jedes Mal, wenn wir nach der Aktivierung des sympathischen Grenzstrangs oder des hinteren Vagus-Astes wieder einen Zustand der sozialen Zugewandtheit herstellen können, steigt auch die Belastbarkeit unseres autonomen Nervensystems.“ (Stanley Rosenberg)
Zurück zu dir
Aus verschiedensten Gründen haben wir als Kinder verinnerlicht, dass wir Probleme nicht auf Basis sozialer Zugewandtheit und authentischer Verbindungen lösen können, sondern nur durch Angriff, Flucht oder Erstarrung. Unser Nervensystem hat sich dies gemerkt und versucht uns auch heute noch auf diese Art und Weise zu schützen – auch wenn wir vom Verstand längst wissen, dass es andere – bessere – Wege gibt.
Diese Fehlinterpretation und Dysregulierung des Nervensystems spüren wir in Form von inneren Spannungen. Haareausreißen, emotionaler Rückzug und Dissoziation sind die Folge.
Doch es gibt eine gute Nachricht: Mithilfe einer achtsamen Lebensweise sowie bewussten Regulierung des Nervensystems ist es möglich, unserem Körper und Geist zu signalisieren, dass wir in Sicherheit sind. Je öfter wir diesen Zustand herstellen, umso anpassungsfähiger wird unser Nervensystem wieder. Sobald sich unser Nervensystem wieder gut selbst regulieren kann und wir neue Verhaltensweisen verinnerlicht haben, um unserem authentischen Ich Ausdruck zu geben, werden wir Trichotillomanie loslassen können.
Alle Methoden und Erkenntnisse sind nun in mein 12-Wochen-Programm geflossen und ich würde mich sehr freuen, dich auf deinem Weg begleiten zu dürfen.
Sobald du dich im Hier & Jetzt sicher fühlst, wirst du deine authentische Wahrheit ausdrücken und das Haareausreißen loslassen können.