5 Gründe, warum Achtsamkeit bei Trichotillomanie hilft

Achtsamkeit ist inzwischen ein Modewort und in aller Munde – doch die wenigsten wissen, wie viel Heilungspotential hinter dieser Lebenshaltung steckt.

Im Grunde bedeutet Achtsamkeit einfach nur präsent im gegenwärtigen Augenblick zu sein – und jedem Moment mit einer annehmenden Haltung zu begegnen.

Das klingt erst einmal unspektakulär, ist aber wirklich lebensverändernd, denn die meiste Zeit über sind wir in der fiktiven Welt unserer Gedanken versunken und wir urteilen permanent über alles, was uns umgibt. Wir sehen die Realität also nicht mehr so – wie sie ist. Stattdessen sehen wir eine Version, die durch unsere Erfahrungen, Urteile und Motive eingefärbt ist. Dies beeinflusst wiederum unser Verhalten. Es ist so sehr geprägt von der Vergangenheit, dass wir oft wie fremdgesteuert durch diese Welt laufen und es nicht schaffen, uns zu verändern. 

Mithilfe der Achtsamkeit können wir diesen „Autopiloten“ unterbrechen, uns die Macht über unser Leben zurückholen – und auch das Haareausreißen loslassen. Warum das so ist, erkläre ich dir in diesem Artikel.

„Du siehst die Welt nicht so, wie sie ist, du siehst die Welt, wie du bist.“ (Mooji)

Grund #1: Achtsamkeit stärkt die Selbstwahrnehmung

Sattel im Yin Yoga

Ich habe sowohl bei mir als auch bei anderen Trichotillomanie-Betroffenen beobachten können, dass der Kontakt zum Körper verloren gegangen ist. Die verminderte Toleranz gegenüber unangenehmen Gefühlen hat quasi zu einer Abspaltung des Körpers geführt. Dies ist insofern problematisch, weil wichtige Signale sowie die eigenen Bedürfnisse nicht mehr wahrgenommen werden können. Das steigende Stresslevel sowie der Zustand des Nervensystems werden nicht mehr erkannt und wichtige Bedürfnisse ignoriert, so dass es schlussendlich zum Haareausreißen kommen muss, um sich selbst wieder zu regulieren.

Bei der Achtsamkeitspraxis wird deine Selbstwahrnehmung gestärkt. Mithilfe körperorientierter Meditationen wird der Körper erforscht – ganz objektiv und von Moment zu Moment. Dabei beobachtest und spürst du deinen Körper – ohne einzugreifen. Alles wird so akzeptiert, wie es ist – ohne etwas anders haben zu wollen. Gedanken lässt du einfach ziehen und verankerst deine Aufmerksamkeit immer wieder im Körper. Allein das ist so heilsam, denn es gibt nichts richtig oder falsch zu machen. Du darfst in dieser Zeit einfach nur SEIN – so wie du bist.

Dieses neutrale Spüren führt dazu, dass die Body-Mind-Verbindung sowie deine Selbstakzeptanz gestärkt werden. Du wirst in jedem Moment wieder wahrnehmen, wie es dir gerade geht, und dies liebevoll annehmen. So bekommst du innere Spannungen viel früher mit, kannst gut für dich sorgen und deine Grenzen besser wahren. Warum Selbstmitgefühl so wichtig ist, erfährst du hier >>

„Der Körper ist der Übersetzer der Seele ins Sichtbare“ (Christian Morgenstern)

Grund #2: Achtsamkeit verbessert die Emotionsregulierung

Wut, Traurigkeit und Angst wollen die meisten Menschen nicht spüren. Bei Trichotillomanie ist das Vermeiden dieser Gefühle aber noch stärker ausgeprägt, was dazu führt, dass Betroffene permanent Situationen vermeiden, die diese Gefühle hervorrufen könnten. Oder sie verdrängen diese Gefühle, was dazu führt, dass sie irgendwann herausplatzen. Denn mit Gefühlen verhält es sich wie mit einem Luftballon. Man kann ihn unter Wasser drücken, aber irgendwann, wenn die Kraft nachlässt und man loslässt, schießt er nach oben. Zudem beobachte ich, dass viele Trichotillomanie-Betroffene sehr sensibel und feinfühlig sind. Stimmungen anderer werden schnell wahrgenommen und die Abgrenzung fällt sehr schwer.

Mithilfe der Achtsamkeitsmeditation lernst du, Gefühle zu fühlen, sie willkommen zu heißen und anzunehmen. Der limbische Bereich deines Gehirns wird gestärkt, der für die Emotionsregulierung zuständig ist. Dabei wirst du immer mehr verinnerlichen, dass unangenehme Gefühle nichts Böses im Schilde führen, dass du sie halten und sogar neugierig im Körper erforschen kannst. Jedes Gefühl hat eine wichtige Botschaft für dich und geht von ganz allein wieder weg, sobald du sie empfangen hast. Gleichzeitig hilft dir die Zeit in Stille eine Auszeit von der Informationsflut und Reizüberflutung im Alltag zu bekommen. Das ist besonders wichtig, wenn man hochsensibel ist.

Diese neue Form der Emotionsregulierung wird dir so viel Freiheit geben, denn du musst unangenehmen Gefühlen nicht mehr aus dem Weg gehen, weil du weißt, du kannst gut mit ihnen sein und dabei dennoch einen kühlen Kopf bewahren. Für mich war das definitiv ein ganz essenzieller Baustein auf meinem Trichotillomanie-Heilungsweg.

Jede Form von Angst resultiert aus zu viel ZUKUNFT und zu wenig JETZT.

Grund #3: Achtsamkeit stärkt das Bewusstsein

Meditation am Strand

Eine Herausforderung bei Trichotillomanie ist die Dissoziation – das ist der Zustand, kurz bevor und während des Haareausreißens, was sich für viele Betroffene wie eine Trance oder ein Ausklinken aus dem Leben anfühlt. Dabei zieht sich das Bewusstsein zurück.

Die Praxis der Achtsamkeit ist eine Bewusstseinsschulung. Sie stärkt die aktiven Hirnregionen und ist ganz essenziell, um solche Trance-Momente überhaupt zu bemerken und zu beenden.

Du wirst lernen, wach und präsent zu sein – in jedem einzelnen Augenblick. So kannst du bewusst wahrnehmen, in welchem Zustand du dich befindest, und die Trance unterbrechen, sobald du sie bemerkst. Du entkoppelst die automatisierte Reaktion (Haareausreißen) vom Reiz (innere Anspannung), indem du dich mit den passenden Übungen wieder im Hier & Jetzt verankerst und dein Nervensystem aus dem Bedrohungszustand holst.  Weitere Informationen dazu findest du hier >>

„Achtsamkeit strebt nichts an. Sie  sieht einfach, was bereits da ist.“ (M. Gunarantana)

Grund #4: Achtsamkeit beendet Grübelschleifen

Jeder kennt es: das kleine Grübelmonster. So oft machen wir uns Sorgen über die Zukunft oder Gedanken über die Vergangenheit. Hinzu kommt diese nörgelnde Stimme des inneren Kritikers. All diese Grübeleien spiegeln unsere Ängste sowie unseren Überlebenswillen wider. Und das ist evolutionär gesehen sehr schlau vom Gehirn, denn das Vermeiden von Gefahren ist nun mal sehr viel wichtiger zum Überleben als das Erleben von Freude. Doch oft führt das zu einem Ungleichgewicht, so dass man sich permanent in sorgenvollen Gedanken verliert.

Im Rahmen der Achtsamkeitspraxis lernst du, diese Gedanken einfach nur zu beobachten. Du übst zudem, deine Gedanken immer wieder ziehen zu lassen und deine Aufmerksamkeit im Hier & Jetzt zu verankern. Dadurch wird der Raum zwischen dem Gedanken und dir immer größer mit dem Resultat, dass du dich nicht mehr mit dem Gedanken identifizierst.

Warum das so kraftvoll ist? Weil du irgendwann bemerkst, dass du nicht deine Gedanken bist und nicht alles glauben musst, was da unbewusst auftaucht. Und indem du solche Gedanken bewusst weiterziehen lässt und nicht an ihnen festhältst, unterbrichst du wunderbar Grübelschleifen, die normalerweise zu Stress geführt hätten.

„Die Sorge nimmt dem Morgen nicht seinen Kummer, sondern dem Heute seine Kraft.“ (Corrie Ten Boom)

Grund #5: Achtsamkeit reduziert Stress

In unserer westlichen Welt ist Stress zur Normalität geworden. Unser sympathisches Nervensystem ist dabei chronisch aktiviert, was zu einem ungesunden Stresslevel im Körper fühlt, weil zu viel Kortisol ausgeschüttet wird. Dies ist ein grundsätzliches Problem, das bei Trichotillomanie-Betroffenen vielleicht etwas ausgeprägter ist aufgrund der Hochsensibilität und fehlenden Abgrenzung.

Mithilfe der Achtsamkeitspraxis wirst du dein Bewusstsein stärken und einen objektiven Beobachter installieren. Dies ist so wertvoll, weil du Stressauslöser dadurch unmittelbar bemerken und damit einhergehende Gedanken und Gefühle wahrnehmen wirst. Du kannst diese Gedanken dann hinterfragen, Gefühle einfach fühlen und unterbrichst allein dadurch die Reiz-Reaktions-Kette, die früher zu einer Stressreaktion im Körper geführt hätte. Stattdessen wirst du ein neues Verhalten wählen, das dir sowie deinen Bedürfnissen und Werten entspricht.

Dieser bewusste Umgang mit Herausforderungen im Alltag wird dazu führen, dass sich dein Nervensystem wieder gut reguliert. Denn nach Phasen der Mobilisierung wird es wieder zur Entspannung kommen. So entsteht gar nicht erst chronischer Stress, der irgendwann zum Haareausreißen führt. Welchen Einfluss das Nervensystem auf Trichotillomanie hat, erfährst du hier >>

„Mindfulness gives you time. Time gives you choices. Choices, skillfully made, lead to freedom. (Bhante Henepola Gunaratana)

Zurück zu dir

Ich hoffe, du hast eine Ahnung davon bekommen, wieviel Heilungspotential in der Achtsamkeit steckt. Und das Gute: Achtsamkeit lässt sich wunderbar trainieren. Genauso wie du im Fitness-Studio deine Muskeln trainierst, kannst du Achtsamkeit mithilfe verschiedenster Meditationen trainieren.

Das weltweit am besten erforschte Programm zur Kultivierung von Achtsamkeit ist das 8-Wochen-Programm von Jon Kabat-Zinn, namens MBSR. MBSR steht für Mindfulness Based Stress Reduction und ist ein wichtiger Bestandteil meines 12-Wochen-Programms.

Mithilfe verschiedenster Meditationen, dem Bodyscan und achtsamen Körperübungen verinnerlichst du, präsent und mit einer annehmenden Haltung jedem einzelnen Augenblick zu begegnen, um deine Selbstwahrnehmung, dein Bewusstsein, deine Emotionsregulierung und deine Resilienz zu stärken. Genau das, was es braucht, um das eigene Nervensystem zu regulieren und neue Bewältigungsstrategien zu lernen, um das Haareausreißen als Ventil schlussendlich loslassen zu können.

„Wenn Achtsamkeit etwas Schönes berührt, offenbart sie dessen Schönheit. Wenn sie etwas Schmerzhaftes berührt, wandelt sie es um und heilt es.“ (Thich Nhat Hanh)