Hilfe, ich reiße mir die Haare aus

Im Alter von 7 Jahren fing ich an, mir meine Wimpern herauszureißen. Was anfangs harmlos begann, wurde zur größten Herausforderung meines Lebens. Sowohl meine Eltern als auch Ärzte waren damals überfordert und ratlos. 

Erst mit ca. 22 Jahren entdeckte ich einen Artikel über das zwanghafte Ausreißen von Haaren und stellte erleichtert fest, dass ich nicht der einzige Mensch auf der Welt bin, der sich die Haare ausreißt und dass das, was ich da tue, einen Namen hat: TRICHOTILLOMANIE.

Anne ohne Wimpern und Augenbrauen

Das Phänomen des wiederholten Ausreißens von Haaren nennt sich Trichotillomanie.

Auslöser und betroffene Körperbereiche

Hände vorm Gesicht

In den meisten Fällen reißen sich Betroffene Kopfhaare, Wimpern oder Augenbrauen aus. Aber auch andere Körperhaare, wie Barthaare oder Schamhaare, können betroffen sein. 

Auslöser für das Haareausreißen ist ein innerer Drang, dem Betroffene nicht widerstehen können. Dieser Drang wird auch als Impuls beschrieben, den Betroffene nicht kontrollieren können. Deshalb spricht man bei Trichotillomanie auch von einer Störung der Impulskontrolle und einem körperbezogenen repetitiven Verhalten (BFRB = body focused repetitive behaviour). Darunter zählen übrigens auch Nägelkauen oder Skinpicking.

Aus eigener Erfahrung kann ich berichten, dass dem Ausreißen der Haare ein Gefühl innerer Anspannung vorausgeht. Ich habe oft mithilfe meiner Willenskraft versucht, den Drang auszuhalten, doch bin immer wieder gescheitert. Dabei konnte ich beobachten, dass das Ankämpfen gegen dieses Gefühl oder das Verdrängen eher zu einer Intensivierung der Anspannung führte. Erst der Akt des Haareausreißens brachte die ersehnte Erleichterung und Befriedigung. Das Ausreißen der Wimpern und Augenbrauen war für mich also ein Ventil, um innere Spannungen abzubauen und wieder innere Ruhe herzustellen.

Trichotillomanie ist ein antrainiertes Verhaltensmuster, um innere Spannungen auszugleichen und Stress zu reduzieren.

Auf der Suche nach Ursachen für Trichotillomanie

Bisher gibt es lediglich Hypothesen darüber, wie es zu der Störung der Impulskontrolle kommt. Folgende Aspekte stehen dabei im Vordergrund, die Trichotillomanie auslösen oder zumindest begünstigen können: 

Veranlagung

Man geht davon aus, dass eine genetische Veranlagung besteht, da sich oft exzessive Verhaltensweisen in der Familie häufen.

Hirnstrukturelle Veränderungen

Des Weiteren wurden Auffälligkeiten im Frontalhirn gefunden, die mutmaßlich für die Initiierung und Steuerung von Handlungen verantwortlich sind. Allerdings stellt sich hier die Frage, ob diese hirnstrukturellen Veränderungen Trichotillomanie hervorgerufen haben oder ob sie erst im Verlauf der Trichotillomanie entstanden sind.

Verminderte emotionale Toleranz

Auffällig ist zudem, dass bei Betroffenen das Bedürfnis sehr stark ausgeprägt ist, unangenehme innere Zustände weghaben zu wollen. Dies kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen. Ich habe über viele Jahre Angst, Wut und Traurigkeit nicht spüren wollen und mit viel Energie-Einsatz verdrängt.

Veränderte Schmerzempfindlichkeit

Der Schmerz beim Ausreißen der Haare wird meist nicht wahrgenommen oder sogar als angenehm eingeordnet. Diese Tatsache begünstigt Trichotillomanie, weil die negative bestrafende Konsequenz – nämlich Schmerz – ausbleibt und somit die Wahrscheinlichkeit wächst, es wieder zu tun. Auch diesen Umstand kann ich bestätigen.

Trauma

Auf Basis meiner Selbstbeobachtung sowie der Arbeit mit Betroffenen möchte ich noch ein wichtiges Thema ergänzen: Traumatische Erfahrungen. Und dabei meine ich nicht das eine große Schock-Erlebnis, sondern in der Kindheit liegende Erfahrungen, die unbewusst als Bedrohung eingestuft wurden und stark überfordernd waren. Das kann passieren, wenn Bezugspersonen sehr dominant, emotional nicht zugänglich oder selbst sehr unausgeglichen waren. Die Folge: Es hat keine gute Co-Regulierung im frühen Kindesalter gegeben, so dass der Umgang mit Gefühlen nicht gelernt werden konnte (was wiederum Punkt 3 gut erklären würde). Zudem konnten höchstwahrscheinlich die Bedürfnisse des Kindes nicht gut erfüllt werden – mit der Konsequenz, dass sich das Kind enorm angepasst hat, um geliebt zu werden (bzw. um in der eigenen Wahrnehmung zu überleben). 

Die Überanpassung führt unweigerlich dazu, dass Bedürfnisse und Gefühle auch im Erwachsenenalter unterdrückt werden. Das ist Schwerstarbeit für das Nervensystem und führt dazu, dass man starke innere Spannung sowie permanente innere Unruhe spürt, was die Impulse verstärkt.

Bisher gibt es nur Hypothesen, warum es zum Ausreißen von Haaren kommt. Deshalb ist die Selbstbeobachtung und Selbsterforschung besonders wichtig.

Erkenntnisse meiner Selbstbeobachtung

Ablauf des Haareausreißens

  • Zum Akt des Ausreißens kam es fast immer, wenn ich TV schaute, ein Buch las oder telefonierte. Also immer dann, wenn ich weitgehend inaktiv war und zur Ruhe kam. Zur Ruhe kommen hieß aber gleichzeitig, diese unangenehme innere Anspannung zu spüren.
  • Um diese Anspannung loszuwerden und mich zu beruhigen, dissoziierte ich mich vom Hier und Jetzt. Ich betastete erst mit meinen Fingern Wimpern und Augenbrauen bis ich ein bestimmtes Haar entdeckt hatte, das etwas andersartig war (schief, stärker oder alleinstehend).
  • Wie in Trance riss ich dann ein oder mehrere Haare aus, was sich für mich immer so anfühlte, als würde ich mich aus dem Leben ausklinken.
  • Nach dem Ausreißen der Haare fühlte ich kurzzeitig eine Entspannung, die allerdings nicht lange anhielt und sich in Selbstvorwürfe und Schuldgefühle verwandelte.
Buch auf dem Gesicht

Gedanken und Gefühle im Alltag

  • Ich war oft nervös und habe im Alltag permanent eine subtile Angst verspürt.
  • Gleichzeitig war ich sehr fixiert auf einen Zustand innerer Ausgeglichenheit. Mit unangenehmen Gefühlen konnte ich nicht umgehen, entsprechend habe ich sie verdrängt oder Situationen vermieden, die diese hervorrufen konnten.
  • Ich habe meinen Körper immer mehr abgespalten, um nichts mehr fühlen zu müssen.
  • Diese Abspaltung führte wiederum dazu, dass ich meine eigenen Bedürfnisse sowie wichtige Signale meines Körpers nicht mehr wahrnahm und permanent über meine Grenzen hinausging.
  • Ich habe mich zudem oft in Grübelschleifen verloren und mir sorgenvolle Gedanken gemacht.
nachdenklich

Selbstwertgefühl

  • Viele Jahre der Trichotillomanie führten dazu, dass ich mich schwach und nicht richtig fühlte, weil ich es nicht schaffte, damit aufzuhören.
  • Im Zusammensein mit anderen Menschen fühlte ich immer Angst und Scham. Ich hatte das Gefühl, dass der andere richtig ist – ich hingegen nicht.
  • Ich habe nur mit wenigen Menschen über Trichotillomanie sprechen können. Das Versteckspiel hat immens viel Kraft gekostet.
  • Mein geringes Selbstwertgefühl führte dazu, dass ich es anderen immer recht machen wollte, dass ich ein starkes Bedürfnis nach Harmonie hatte und mich nicht abgrenzen konnte.
  • Irgendwann war mein tiefster Wunsch nicht mehr, Trichotillomanie loszuwerden, sondern ein gesundes Selbstbewusstsein zu haben und einen guten Umgang mit der vorherrschenden Angst zu finden. 

Irgendwann war nicht mehr Trichotillomanie mein größtes Problem, sondern mein geringes Selbstwertgefühl. Ich wollte wieder frei und glücklich sein.

Bisherige Ansätze zur Behandlung von Trichotillomanie

Es gibt inzwischen diverse Therapien und Methoden zur Behandlung von Trichotillomanie-Betroffenen. Nachfolgend stelle ich zwei wichtige Ansätze vor, auf die in den letzten Jahren überwiegend zurückgegriffen wurde:

1) Entkopplungsmethode / Habbit Reversal Methode

In den vergangenen Jahren ist diese Methode sehr stark in den Fokus gerückt. Dabei lernen Betroffene, ihr Verhaltensmuster zu verändern, indem sie das „Fehlverhalten“ des Haareausreißens durch ein anderes nicht schädigendes Muster ersetzen. Diese Methode setzt nicht am Ursprung des Problems, sondern nur am Symptom an. Das Gefühl innerer Anspannung bleibt. 

2) Psychotherapie

Eine weitere Möglichkeit ist eine Verhaltenstherapie, die vor allem auf kognitiven Techniken der Selbst- und Stimuluskontrolle, positiver Verstärkung sowie Entspannungsübungen basiert. Viele Betroffene erleben einen signifikanten Symptomrückgang und reißen sich viel seltener die Haare aus. Doch aus Gesprächen mit vielen Betroffenen weiß ich, dass es bei dieser Therapie oft zu Rückfällen kommt –  besonders in Lebensphasen, die von Stress und Krisen geprägt sind. 

Als Alternative dazu gibt es inzwischen die Akzeptanz- und Commitment-Therapie, die wie mein 12-Wochen-Programm einen großen Wert auf Achtsamkeit und Werte-Orientierung legt. Die Heilungschancen sind stark abhängig von der Beziehung und dem Vertrauen zum/r Therapeuten/in.

Manchmal braucht es neue Wege, um glücklich zu sein.

Neue Erkenntnisse und Heilungswege

Im Laufe meines Heilungswegs konnte ich bestens erforschen, wie und warum mir bestimmte Ansätze so sehr helfen. 

Dabei ist mir schnell bewusst geworden: Trichotillomanie ist meine Bewältigungsstrategie, um innere Spannungen abzubauen. Wenn ich also ausschließlich versuche, das Symptom (das Haareausreißen) loszuwerden, wird das eigentliche Problem (das unangenehme Gefühl innerer Unruhe und Anspannung) weiterhin bestehen. Um nachhaltige Heilung zu finden, musste ich mich also der Ursache und der Frage widmen: Woher kommt die innere Spannung? Und wie kann ich diese Spannung senken – ohne Haare auszureißen? Und tatsächlich habe ich Antworten darauf gefunden:

Herz

1) Polyvagaltheorie

Die Polyvagaltheorie beleuchtet unser Nervensystem und hat mir im Grunde physiologisch erklärt, was ich die ganze Zeit gefühlt habe. Unser Nervensystem ist sehr komplex und zugleich intelligent. Welche Rolle es hinsichtlich Trichotillomanie spielt und wie eine gute Regulierung gelingen kann, erkläre ich dir hier >>

Herz

2) Achtsamkeit

Mithilfe eines MBSR-Kurses und dem Verinnerlichen einer achtsamen Haltung habe ich so einiges für mein Leben gelernt, vor allem aber wie ich unangenehme Gefühle und Stress so reguliere, dass ich das Ventil des Haareausreißens nicht mehr brauche. Warum Achtsamkeit, meiner Erfahrung nach, der Schlüssel für meine Trichotillomanie-Heilung war, erfährst du hier >>

Herz

3) Selbstmitgefühl

Über viele Jahre habe ich einen inneren Kampf geführt. Ich war nie gut genug und habe mich selbst dafür gehasst, dass ich mich so entstelle. Selbstmitgefühl hat diesen Hass in Akzeptanz und Sanftheit verwandelt. Warum auch das so wichtig für meinen Heilungsweg war, verrate ich dir hier >>

Herz

4) Selbstausdruck

Ich hatte nie richtig gelernt, im Einklang mit meinen Bedürfnissen und Werten zu leben, weil ich mich immer nach anderen gerichtet habe. Umso wichtiger war es, mir wieder bewusst zu machen, was mir wichtig ist und zu lernen, klare Grenzen zu setzen. Welche Rolle das Selbstbewusstsein dabei spielt, erfährst du hier >>

Kann es sein, dass auch du deine Bedürfnisse unterdrückst, um dich anzupassen? Fällt es dir schwer, gesunde Wut auszudrücken? Und hast du das Gefühl, dass du dein authentisches Ich  nie richtig ausdrücken konntest? 

Zurück zu dir

Manchmal zwingt uns das Leben zu der Entscheidung authentisch oder zugehörig zu sein. Kinder können nicht ohne Zugehörigkeit leben und treffen oft die tragische unbewusste Wahl, alles dafür zu tun, sich anzupassen und dafür ihre Authentizität herzugeben. Im Leben danach geht es dann vor allem darum, die eigene Identität wieder zu entdecken. 

Die oben beschriebenen Ansätze und Methoden haben mir genau dabei geholfen, meine Authentizität wieder zu entdecken und zugleich das Haareausreißen loszulassen. Für mich war immer klar, sobald ich einen Heilungsweg gefunden habe, werde ich ihn mit anderen Betroffenen teilen. Alle Methoden und Erkenntnisse sind nun in mein 12-Wochen-Programm geflossen und ich würde mich sehr freuen, dich auf deinem Heilungsweg begleiten zu dürfen. 

„Das einzige, was jemals nicht richtig mit mir war, war mein Glaube daran, dass etwas nicht richtig mit mir war.“ (Glennon Doyle)